Das Lesejahr 2013 – Teil IV

Internationale Entdeckungen

Es soll ja Menschen geben, die vor allem eine Art von Literatur lesen oder eine Sorte Filme gucken – sich auf ein Land oder eine Zeit spezialisieren, seien es russische Avantgarde, Nouvelle-Vague-Filme oder deutsche Gegenwartsliteratur. Auch die Lektorin hatte solche Phasen. Mal waren es russische Klassiker, dann wieder hatte sie die französischen Existentialisten für sich entdeckt. Wenn sie heute mal über den Tellerrand hinausguckt, dann meist auf Empfehlung wunderbarer Kollegen oder durch Zufall.

Habila_Öl auf Wasser_Cover Das erste Buch, das sie hier nennen möchte, stammt von dem nigerianischen Autor Helon Habila. Die Entdeckung des Buches „Öl auf Wasser“ verdankt die Lektorin dem wunderbaren Manfred Metzner aus dem Verlag Das Wunderhorn. Dieser Krimi um den jungen Journalisten Rufus, der sich im Delta des Niger auf die Suche nach einer verschwundenen Britin, der Ehefrau eines hohen Angestellten einer Ölbohrfima, macht und dabei auf Umweltzerstörung und eskalierende Gewalt mitten in dem politisch zerrissenen Land trifft, stand völlig zu Recht auf gleich mehreren Krimi-Bestenlisten.

Canigüz_Söhne und siechende Seelen_CoverDIE Adresse für türkische Gegenwartsliteratur auf Deutsch ist neuerdings sicherlich der binooki-Verlag. Und die beiden Verlegerinnen Selma Wels und Inci Bürhaniye können so dermaßen von ihren Büchern schwärmen, dass der Lektorin gar nichts anderes übrig blieb, als gleich zwei der wunderschön gestalteten Bücher mitzunehmen und zu lesen. Und, wie war’s? Für das Buch „Söhne und siechende Seelen“ von Alper Canıgüz spricht eigentlich schon der erste Satz: „Mit fünf Jahren befindet sich der Mensch auf der Höhe seiner Reife, danach beginnt er zu faulen.“ Dass ein fünfjähriger hyperintelligenter Ich-Erzähler bisweilen ziemlich anstrengend sein kann, ist klar – wie er sich mit der Welt der Erwachsenen arrangiert und dabei auch noch einen Mord aufklärt, hat aber dennoch hohem Unterhaltungswert. Murat Uyurkulaks Roman „Glut“ ist ein anderes Kaliber. Vom Verlag als „Roman einer Apokalypse“ bezeichnet, versetzt er den Leser in das Land Ominösien, in dem Bürgerkrieg herrscht. Nach dem Tod seines überall beliebten kleinen Bruders wird ersatzweise der Taugenichts Muster von höheren Mächten zum Prophetenkandidaten erkoren. Eine ziemlich wilde und böse Geschichte, bei der sich die Lektorin gewünscht hätte, noch mehr der Andeutungen und Parallelen zur heutigen Türkei zu verstehen.

Ogawa_DasGeheimnisDerEulerischenFormel_CoverDer Liebeskind-Verleger Jürgen Christian Kill drückte der Lektorin nach deren Bekenntnis, dass ihr absolutes Lieblingsbuch des Jahres 2012 Julie Otsukas „Wovon wir träumten“ gewesen sei, das Buch einer anderen Japanerin in die Hand: „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ von Yoko Ogawa. Die Geschichte über die Haushälterin eines alten Mathematikprofessors, dessen Kurzzeitgedächtnis nach einem Unfall nur noch die letzten 80 Minuten speichert, ist bezaubernd, ohne kitschig zu sein. Und Zahlen und Mathematik tun auch nicht weh.

Und weil die Lektorin gerade so schön im Japan-Fieber war, hat sie aus dem Regal mit den vielen ungelesenen Büchern, die auf den verschiedensten Wegen in den Haushalt der Lektorin gelangen, auch gleich noch „Der stumme Schrei“ (1967) des Literaturnobelpreisträgers von 1994, Kenzaburō Ōe, gezogen – in einer Ausgabe von 1994 aus dem Verlag Volk und Welt. Mitsusaburō, Vater eines geistig behinderten Kindes, fährt nach dem Selbstmord eines engen Freundes gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Frau in sein Heimatdorf, um dort mehr über seine Herkunft zu erfahren. Dort scheinen sich historische Ereignisse (Bauernaufstand 1860) zu wiederholen. Ein eindringliches Buch, aber anders als die Schilderungen Ogawas bleibt das Gefühlsleben der Protagonisten Ōes der Lektorin fremd.