Nathalie Azoulai, An Liebe stirbt man nicht

Für den Secession Verlag hat die Lektorin diesen wunderbaren Band zum Frankreich-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse Korrektur gelesen – über die Liebe, über Literatur und über Jean Racine.

Nathalie Azoulai
An Liebe stirbt man nicht
(OT: Titus n’aimait pas Bérénice)
aus dem Französischen von Paul Sourzac
Roman
gebunden, ohne Schutzumschlag
250 Seiten, 25,00 €
ISBN 978-3-906910-16-1

 

Spricht man in Frankreich von der Liebe, kommt man früher oder später auf Jean Racine, den größten Tragödienautor Frankreichs – vor allem wenn man von jener Liebe spricht, der kein glückliches Ende beschert ist. Und doch ist Racine mehr als all die geflügelten Worte, zu denen viele seiner Verse geworden sind.

Zwischen all dem klassisch weißen Marmor lauern die Schatten. »Eine Trennung ist keine Nichtigkeit«, schreibt Racine im Vorwort zu seiner Tragödie Bérénice – und Nathalie Azoulai nimmt ihn beim Wort. Ihre Bérénice, eine Frau des 21. Jahrhunderts, wird verlassen; Titus, ihr Liebhaber, kehrt zurück zu Frau und Familie. Und tatsächlich – die Worte Racines sind ihr ein Trost; sie erkennt sich in ihnen wieder; sie bedient sich wie in einem »Selbstbedienungsladen für Liebeskranke«. Doch wie konnte ein Mann des 17. Jahrhunderts so treffend über die Liebe und das Leid und den Schmerz nach deren Ende schreiben – zumal aus der Perspektive einer Frau?

Mit Bérénice taucht Azoulai ein in das Leben Jean Racines, zeigt dessen Aufstieg vom Waisenkind im strengen Kloster Port-Royal zum Günstling Ludwigs XIV., die Zerrissenheit zwischen der jansenistischen Askese und dem Prunk am Hof des Sonnenkönigs. Und immer sind ihm Sprache und Literatur Anker und Kompass: die verbotenen und im Verborgenen gelesenen Texte Vergils und Heliodors als Kind und die Suche nach neuen Ausdrucksformen der Liebe und Leidenschaft als immer erfolgreicherer Dichter.

Nathalie Azoulai spiegelt ihre Bérénice der Gegenwart in der Lebensgeschichte ihres Schöpfers und dessen éducation sentimentale im Schmerz seiner Figur, Bérénice. Und so wird dieser berückend schöne und filigrane Text zu weit mehr als einer Biografie oder einem historischen Roman: Nathalie Azoulai zeigt die Universalität der Leidenschaft und des Kummers über die Jahrhunderte hinweg und beschreibt so eine Topografie der Sprache der Liebe.

Nathalie Azoulai, (geb. 1966 in Nanterre bei Paris) studierte Literaturwissenschaften und arbeitete nach ihrem Abschluss als Lehrerin, bevor sie Lektorin wurde. 2002 erschien ihr erster Roman. Heute lebt und arbeitet sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin in Paris. An Liebe stirbt man nicht ist Nathalie Azoulais sechster Roman und ihr erster in deutscher Übersetzung. Sie war damit 2015 unter den drei Finalisten des Prix Goncourt und wurde dafür mit dem Prix Médicis ausgezeichnet.