Das Lesejahr 2013 – Teil V

Bücher, die die Lektorin schon länger lesen wollte

Es gibt immer wieder Bücher, von denen die Lektorin hört, und bei denen sie denkt: Klingt gut, sollte sie mal lesen. Aber in der Menge der Veröffentlichungen und bei der großen Auswahl noch besser klingender Titel – oder weil in dem Regal mit den ungelesenen Büchern noch so viele andere stehen –, gehen sie wieder unter, und es dauert einfach eine Weile (zumindest gefühlt), bis sie diesen Titeln wieder begegnet und sie dann doch liest. Zu diesen Büchern zählen auch die sogenannten Klassiker, die „man“ gelesen haben sollte.

Von Letzteren hat sie im vergangenen Jahr tatsächlich nur eines gelesen: „Die Blechtrommel“ (1959) von Günter Grass. Angesichts der Abneigung der Lektorin gegenüber dem Autor, von dessen Büchern sie bis dato zwar nur „Im Krebsgang“, dafür aber zu viele seiner sonstigen Ergüsse gelesen hatte, hat sie lange einen starken inneren Widerwillen verspürt – auch die Verleihung des Nobelpreises an Grass hatte daran nichts ändern können. Aber kann sie tatsächlich einen, wie es immer wieder so schön heißt, „der wichtigsten Romane der Nachkriegszeit“ ignorieren? Dauerhaft nicht. Und da Buch und Autor ja nicht identisch sind und ihr im vergangenen Jahr mal wieder jemand von dem Buch vorschwärmte, hat sie ihren inneren Unwillen überwunden und … Nun ja. Es wird vermutlich das letzte Buch gewesen sein, das sie von Günter Grass gelesen hat.

2013 hat Sibylle Lewitscharoff den Büchner-Preis erhalten. Eine wunderbare Gelegenheit, endlich ihren bereits 2011 erschienenen und damals auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stehenden Roman „Blumenberg“ (Suhrkamp) zu lesen. Das Buch über den Philosophen Hans Blumenberg, dem eines Nachts in seinem Arbeitszimmer ein Löwe erscheint, der ihm von nun an ein mehr oder weniger treuer Begleiter sein wird, und in dessen Geschichte das Schicksal von vier seiner Studenten verwoben ist, lohnt die Lektüre allemal.

Kracht_Imperium_CoverChristian Krachts Roman „Imperium“ (Kiepenheuer & Witsch) hat 2012 ganz kurz für Wirbel gesorgt, als dem Buch von einem Rezensenten Rassismus vorgeworfen wurde. Eine Debatte ist angesichts der an den Haaren herbeigezogenen These zum Glück nicht wirklich entstanden. Anfang des 20. Jahrhunderts wandert der Vegetarier und Nudist August Engelhardt in die Südsee aus, wo er auf einer kleinen Insel der Kokosnuss huldigt – zunächst als Wirtschaftsgut, später wahnhaft, sich ausschließlich von ihr ernährt, ihr gar religiöse Bedeutung zumisst – und dennoch Anhänger aus dem Deutschen Reich um sich scharen kann. Kracht erzählt den inneren und äußeren Verfall dieses Menschen in einer Art Robinsonade. Eindrücklich.

Götz_Johann Holtrop_CoverEbenfalls die Geschichte eines Sturzes erzählt Rainald Götz in seinem Roman „Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft“ (Suhrkamp 2012). Der smarte Vorstandsvorsitzende Dr. Johann Holtrop, Herr über 80.000 Mitarbeiter und einen weltweiten Umsatz von 20 Milliarden Euro verliert im Laufe der Nullerjahre die Kontrolle. Gefangen in seiner Egomanie und Weltverachtung beginnt er, Fehler zu machen – und stürzt so tief und schnell, wie er zuvor seinen Aufstieg gemeistert hat: wirtschaftlich, gesellschaftlich und persönlich. Gehört auf jeden Fall zu den Büchern, die man gelesen haben sollte.

Bierbichler_Mittelreich_CoverEin weiteres wunderbares Buch aus dem Hause Suhrkamp ist der Roman „Mittelreich“ (2011) von dem eher als Schauspieler bekannten Josef Bierbichler. Ein Familienroman rund um eine bayerische Seewirtschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts – katholische, bayerische Provinz zwischen Weltkriegen und Wirtschaftswunder. Über Träume, die begraben werden müssen, komische Katastrophen und seltsame Gäste. Was für ein toller Erzähler.

Last but not least: Der Roman „Replay“ (C. H. Beck 2012) von Benjamin Stein. Bei Büchern von Autoren, mit denen sie zusammenarbeitet, fehlt der Lektorin zumeist der notwendige Abstand, um ein eindeutiges Urteil abzugeben. Sie liest die Bücher einfach „anders“. Darum nur so viel: Warum der Software-Entwickler Ed Rosen eines Morgens anstelle seines Fußes einen Huf hat, muss man einfach selbst lesen. In Zeiten von Google Glass und weiteren denkbaren technischen Sperenzien sehr hellsichtig und absolut bedenkenswert.